Zum »Schäkespears Tag« ist eine Rede des 22-jährigen Johann Wolfgang von Goethe, die er vor 250 Jahren am 14. Oktober 1771 anlässlich des »Shakespeare-Tages« in Frankfurt am Main in seinem Elternhaus vortrug; darin ehrt er den englischen Lyriker und Dramatiker William Shakespeare für sein Schaffen und drückt seine ganz ganz persönliche Beziehung zu ihm aus. Sie gilt neben Herders Programmschrift »Shakespear« als wichtiges Dokument der Shakespeare-Begeisterung der »Sturm und Drang« Zeit.
Goethe zufolge enthielten die Werke Shakespeares viele für den Sturm und Drang typische Merkmale. So breche Shakespeare mit den alten Regeln des klassischen Theaters. Die drei Einheiten des Ortes, der Zeit und der Handlung, die nach Aristoteles Prinzipien für den Aufbau von Dramen waren, seien nur Fesseln, die die freie Interpretation eines Werkes nicht zuließen. Diese seien bei Shakespeares Dramen richtigerweise nicht berücksichtigt worden.
„Ich zweifelte keinen Augenblick, dem regelmäßigen Theater zu entsagen. Es schien mir die Einheit des Orts so kerkermäßig ängstlich, die Einheiten der Handlung und der Zeit lästige Fesseln unsrer Einbildungskraft. Ich sprang in die freie Luft und fühlte erst, daß ich Hände und Füße hatte. Und jetzo, da ich sahe, wie viel Unrecht mir die Herrn der Regeln in ihrem Loch angetan haben, wieviel freie Seelen noch drinne sich krümmen, so wäre mir mein Herz geborsten, wenn ich ihnen nicht Fehde angekündigt hätte und nicht täglich suchte, ihre Türme zusammenzuschlagen.“
Auch sieht Goethe in den Werken Shakespeares den Kampf des Individuums gegen den Rest der Welt, eine Facette, die wegweisend für die Sturm-und-Drang-Zeit war. Der Begriff Genie sei ebenfalls auf Shakespeares Dramen anzuwenden. So gebe es eine Figur, die all die Eigenschaften eines Originalgenies besitze, eine Figur mit absoluter Schöpferkraft. Weiter sieht Goethe auch den Aspekt des Naturmenschen in Shakespeares Werken vorhanden. So ist der typische stürmerisch-drängerische Mensch eins mit der Natur bzw. dem, was man der idealisierten Natur zusprach; Regelfreiheit und Non-Konformität sind zwei wesentliche Schlagworte in dieser Hinsicht.
Als vor rund 250 Jahren die Shakespeare-Begeisterung in Deutschland um sich griff, gehörte auch ein sogenanntes ›Hamlet-Erlebnis‹, nämlich die Identifikation mit dem melancholischen Dänenprinzen, zu den Reaktionen auf Shakespeares Stücke. Die menschliche Psyche und ihre Widersprüchlichkeiten sowie die Reflexion über Ich, Fiktion und Welt stehen in diesem Stück auf dem Prüfstand, und nicht umsonst hat der berühmteste Monolog der Theatergeschichte in diesem Stück seinen Platz: "To be or not to be, that is the question" / "Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage".